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„It’s harder to hate up close.“

Last updated on 21. Januar 2021

„It’s harder to hate up close“, liest mir Michelle Obama vor, während ich mit dem Hund durch den Wald spaziere. In ihrem Buch „Becoming“, das mich gerade in jeder Minute, die ich allein zu Fuß, im Auto oder auf dem Rad verbringe, begleitet, erzählt sie von ihrer Reaktion auf und ihren Kämpfen mit Missverständnissen bezüglich ihrer Person und ihres Auftretens. Sie hat keine guten Worte über die Menschen, die sie mit Absicht missinterpretiert, ihre Worte verdreht und in ein schlechtes Licht gestellt haben.

Und doch hat sie sich nicht unterkriegen lassen. Sie hat die Nähe gesucht zu den Menschen, deren Herz es zu gewinnen galt. Eben weil „It’s harder to hate up close.“ – „Es ist schwerer jemanden zu hassen, mit dem man einen Moment hatte.“

Wann auch immer mir Menschen von solchen Begegnungen erzählen – Begegnungen mit Vorurteilen, verdrehten Fakten. Begegnungen, die eigentlich nur bestätigt sehen wollen, dass wahr ist, was man ohnehin schon von jemandem dachte. Begegnungen, in denen es eigentlich egal ist, was ein Mensch tut und sagt – weil ein Urteil über ihn ist schon längst gefällt. Der Stempel schon aufgedrückt. Die Schublade schon beschriftet. Immer dann taucht als erstes vor meinem inneren Auge Jonas Gesicht auf.

Zeit mit Jona hatten die Leute, die sich an ihm störten, eigentlich genug. Aber echte Momente? – Nein! Denn sie hatten ihn gar nicht wirklich gekannt. Sie hatten nicht verstanden, wer er war. Sie wollten, dass er in ein Schema passt. Sie dachten, er hätte wie alle anderen zu sein. Etwas, das er sich sogar selbst oft genug gewünscht hatte – zu sein „wie alle anderen“. Aber das war er nicht. Und das wäre er auch nie gewesen. Dazu war zu viel passiert. Und überhaupt, was ist das – „wie alle anderen“ zu sein?

Sie lehnten ab, was und wer er war. Und bekanntlich ist es so: Ablehnung und mangelnde Wertschätzung erzeugen in irgendeiner Form wieder Ablehnung und mangelnde Wertschätzung.

Umso dankbarer bin ich für die wenigen Menschen, die Jona an irgendeinem Punkt in ihrem und seinem Leben vollen Zugang zu ihrem Herzen gewährt haben; ganz gleich, wie seltsam und schwer zu verstehen Jona manchmal war. Und sie wurden belohnt – mit bedingungslosem Vertrauen und echter Freundschaft. Und das ist ein Ding, das mir nicht nur bei Jona auffiel, sondern das ich auch jetzt immer wieder bei anderen Kindern entdecke – bei Kindern mit einer „Geschichte“:

Gib ihnen ein Stück von deinem Herzen, und du wirst ihr ganzes bekommen! Denn „It’s harder to hate up close.“

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.