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Hirntumor

Last updated on 21. Januar 2021

„Hirntumoren sind Hauptursache der Krebssterblichkeit im Kindesalter.“

„In Deutschland erkranken jährlich etwa 380 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren an einem Hirntumor.“

Die Statistik ändert sich von Jahr zu Jahr. Doch die Zahlen scheinen sich irgendwie eingependelt zu haben. Es gibt Erfolge zu verbuchen, aber die Diagnose „Hirntumor im Kindesalter“ verändert ein Leben – in der Regel für immer.

Ich kann mich nur zu gut an die Tage vor Jonas erstem MRT erinnern – noch komplett unwissend, dass es irgendwann mal so viele MRTs sein würden, dass ich aufhöre zu zählen. Ich erinnere mich noch, wie ich las „Hirntumoren sind äußerst selten“ und mir eingeredet hab „Wenn es so selten ist, dann wird es wohl das nicht sein!“ Mein Herz aber wusste schon genau, dass es ziemlich sicher genau das sein musste – denn, das hatte auch ich verstanden: Alles sprach dafür. Aber man versucht sich ja immer bis zum letzten Moment selbst zu beschwatzen… Man will ja hoffen können!

Nicht jeder Hirntumor ist so aggressiv wie der, der in Jonas Kopf sein Unwesen trieb. Es gibt Tumoren, die wachsen sehr langsam. Aber leider sind sie oft an Stellen, wo sich schlecht operieren lässt. Somit ist es nicht selten der Fall, dass ein Tumorrest im Gehirn verbleiben muss, der dazu führen kann, dass der Tumor wiederkehrt – was auf lange Sicht nicht weniger bedrohlich und einschränkend ist.

Zwar sind in den letzten Jahren die Heilungsraten der Kinder, die an einem Hirntumor leiden, enorm gestiegen, was vor allem dem Einsatz von Chemotherapie und (einer stetig optimierten) Bestrahlung zu verdanken ist. Doch die Erkrankung selbst und die Therapie hinterlassen Spuren der Verwüstung, und das ausgerechnet da, von wo aus alles gesteuert wird… das Gleichgewicht, der gesamte Bewegungsapparat, die Aufnahme und Verarbeitung von Informationen, die Fähigkeit sich an Dinge zu erinnern, die Ausschüttung von entscheidenden Hormonen und so weiter, und so weiter.

Du könntest einen absolut gesunden Arm haben. Ihn zu gebrauchen – unmöglich. Du könntest ein völlig intaktes Auge besitzen – und trotzdem siehst du nichts. Du könntest all die Wörter und Informationen in deinem Hirn gespeichert haben – doch kein Zugang mehr, nicht mehr abrufbar. Du könntest gut funktionierende Lungen haben – doch der Befehl „Atmen!“ kommt nicht mehr an.

Außerdem erhöhen jede Chemotherapie und jede Bestrahlung das Risiko später an einer anderen, durch die Therapie verursachten, Form von Krebs zu erkranken.

Zu alledem lese ich an anderer Stelle „Trotz guter subjektiver Lebensqualität ist auch die soziale Integration der Überlebenden, beispielsweise in der Schule und in der Berufsausbildung, mit dem Lebenspartner und der Familie oft beeinträchtigt.“

Wenn ich einen Blick zurückwerfe auf die vergangenen Jahre, muss ich sagen, sie waren beängstigend und kräftezehrend. Diese Zeiten, als wir nicht wussten, ob Jona die nächsten Monate überleben würde, ob die Behandlung anschlägt; als er praktisch pausenlos im Krankenhaus war, oder als wir dann wussten, dass er sterben würde. Doch während dieser ‚Akut-Phasen‘ wurden uns viel Mitgefühl und Liebe entgegengebracht.

Die dunkelsten Zeiten waren die ‚dazwischen‘ – als Jona wieder zurück war ‚da draußen‘. Nicht jeder konnte mit dem, der er geworden war. Nicht jeder konnte mit dem Päckchen, das er mit sich brachte. Nicht jedem gefiel die Art, wie wir als Familie versuchten damit umzugehen. Die Versuche, die Familie zusammenzuhalten. Die Versuche, ihn und die anderen Kinder auf die Weise zu lieben, wie wir dachten, dass es jeder braucht.

Darum: Tritt einen Schritt zurück und schau dir jemanden genau an, bevor du dir eine Meinung bildest, oder gar ein Urteil fällst. Lass dir die Geschichte erzählen und hör, was dein Gegenüber dir sagt – und auch das, was er oder sie nicht sagt. Nicht nur um Mitgefühl zu zeigen. Sondern weil der, mit dem du zu tun hast, ein Mensch ist. Und jeder Mensch verdient, dass man ihm zuhört und ihn ernst nimmt – ungeachtet dessen, was ihn verändert hat.

Denn als das ‚Dazwischen‘ wieder vor Jonas Tür stand, da hatte ich immer gehofft. Gehofft, dass wo auch immer sein Weg ihn hinführen würde, und wem auch immer er begegnen würde, dass da immer Menschen sein würden, die ihm zuhören – nicht nur mit ihren Ohren, sondern auch mit ihrem Herzen.

Jona braucht jetzt kein Mitgefühl und kein Verständnis mehr – er ist ’safe‘. Aber mein Herz ist mit denen, die gerade leiden und kämpfen, weil sie leben wollen. Nicht nur über-leben – sondern leben, einfach richtig leben!

Und wer eine derartige Geschichte mit sich herumträgt, der ist nicht Mainstream, der lässt sich nicht so einfach in ein Schema pressen. Kinder wie Jona ecken womöglich an oder fallen auf, weil sie das Leben nicht auf herkömmliche Weise erfahren haben und nun die Welt mit anderen Augen sehen. Vielleicht sind sie müder, sensibler, waghalsiger, weniger belastbar oder vielleicht auch mutiger und zielstrebiger oder doch ängstlicher als jemand, dessen Leben größtenteils nach Plan verlief.

Wenn ich einen Wunsch habe für diese Welt, in der wir leben – einen Wunsch für diese Gesellschaft, in der unsere Kinder groß werden, dann ist es der, dass wir ‚Leistung‘ neu definieren. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Und so wie wir Leistung definieren, wird es immer schwer bleiben Menschen, die anders sind, Raum zu geben. (Man ist ja geneigt, von ‚Menschen mit Defiziten‘ zu sprechen… Aber hat nur der kein Defizit, der gut Geld verdient und/oder eine angemessene gesellschaftliche Stellung inne hat?)

Und ein großes Problem unserer Leistungsgesellschaft ist, dass wir gerne reden – und nicht gerne zuhören. Drum wünsche ich mir für unsere Welt, dass wir einander wieder mehr zuhören. Zuhören – nicht nur mit unseren Ohren, sondern mit unseren Herzen. Damit wir verstehen… Wie wir doch selber vieles mit anderen Augen sehen könnten. Wie wir selber ‚echter‘, ‚mehr wir selbst‘ sein könnten – weil das Leben zu kurz ist für ‚fake‘. Und das nicht nur für einen Menschen mit Hirntumor.

Foto: Caroline Rosenau – Liquid Filmproduktion https://liquidfilmproduktion.de/

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.