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Der Verlust kindlicher Unschuld

Last updated on 21. Januar 2021

„Du bist nicht mehr krank, oder? – Jaaa! Dir geht’s wieder gut!“ Ein Magen-Darm Virus hatte mich erwischt. Für einen Tag – nur einen Tag…!!! Und das war morgens nach dem Aufwachen seine einzige Sorge gewesen; Ob ich aufstehen kann. Oder ob es mir vielleicht noch schlechter geht als gestern.

Denn das wäre ja nichts Neues für ihn gewesen, dass ein Mensch plötzlich krank wird, und die Aussicht auf Besserung ist weit, weit weg. Und eine Aussicht auf eine Rückkehr zu dem, was vorher normal war, nicht wirklich existiert. Weil ganz „normal“, das hat es sowieso nie gegeben.

Unser Schlusslicht war damals gerade fünf Jahre alt. Er wird mir eineinhalb Jahre später unter Tränen sagen, dass er so traurig ist, weil er „Jona nie gesund gekannt hat“. Als Baby ist er quasi in Arztpraxen und Krankenhäusern zuhause gewesen. Im Tragetuch oder auf dem Arm – immer irgendwie dabei. Das ging? – Das musste!

Hängengeblieben bei ihm ist viel. Viel genau da, wo kein Mensch bei sich wirklich Zugang hat – es sei denn, er verschafft sich diesen bewusst. Und heraus kommt dabei dann, was wir so salopp als Prägung bezeichnen, und was, in Kombination mit gewissen Anlagen, einen Charakter formt.

Und genau da, als ich nach einem Tag im Bett wieder aufstehen konnte, und dieser riesen Stein praktisch hörbar vom Herzen des kleinen Fünfjährigen fiel, da wurde mir wieder bewusst, wie zerbrechlich die Vorstellung von Leben und Gesundheit ist, die unsere Kinder mit sich herumtragen. Wie von ihnen die geringsten Anzeichen von Krankheit mit viel Schlimmerem in Verbindung gebracht werden, als mit nur ein paar Tagen im Bett.

Sie sind jetzt in Besitz dieser unsichtbaren Antennen. Und da ist immer etwas von der Angst, einer, den sie lieben und brauchen, könnte wieder lange weg sein oder schwach und auf Hilfe anderer angewiesen oder gar ganz verschwinden.

Man könnte es Mitgefühl nennen – oder den Verlust kindlicher Unschuld. Vielleicht aber auch ist es ein bisschen von beidem…

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.