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Wahrheit und Lüge

Last updated on 21. Januar 2021

Wie wir doch meinen, dass wir Erwachsenen unseren Kindern irgendwas voraus hätten – abgesehen von Jahren. Wie wir doch meinen, dass alle Erkenntnisse darüber, wie dieses Leben funktioniert, uns wirklich weiser und besser machen. Wie wir uns doch nach einigen Jahren für „alte Hasen“ halten, die irgendwie ja schon angekommen sind (Weil – fängt das nicht schon da an, wo ich mit meinem Erstklässler am zweiten Schultag am Kindergarten vorbeilaufe, und er nur ein müdes „Pfff… die kleinen Pimpfis im Kindi!“ von sich gibt?). Und ist es nicht, eigentlich nur um uns selber zu trösten, dass wir bezüglich unserer Falten und unserem Schreibtisch-Speck, unserem noch cellulitefreien Gegenüber bei manchen Themen leicht süffisant ein „Ach, als ich mal so jung war wie du…“ an den Kopf werfen?

Sind wir wirklich so viel weiter – so viel mehr angekommen?

Je länger der Elternabend her ist, umso klarer werden meine Gedanken über das angeschnittene Thema. Umso mehr verzahnen sich in meinem Kopf persönliche Erlebnisse mit dem, was mir durch tagelanges Nachdenken immer klarer wird.

Die Grundschüler sollen zum Lesen animiert werden. Es gibt einen Wettbewerb. Welche Schulklasse schafft es, zuerst so viele Bücher zu lesen, dass die Dicke der Buchrücken zusammengerechnet die Höhe des höchsten Turms unserer Stadt erreicht?

– Naja, zum Glück wohnen wir nicht in Dubai! – Denke ich.

Die Eltern um mich haben andere Gedanken. Sie befürchten, dass ihre Kinder dann nur Bücher hernehmen werden, deren Inhalt sie sowieso schon kennen, und sie diese dann gar nicht mehr richtig lesen werden. Oder dass sie sich nur Bücher mit ganz vielen Bildern aussuchen werden und sich so den Turm hinaufmogeln werden. Und so häufen sich die Bedenken und die Angst vor zusätzlichen Konflikten in der Familie durch eine solche Aktion.

Ich höre der Diskussion zu, kann aber dieses komische Gefühl, das in mir ist, nicht so wirklich auf den Punkt bringen. Zudem ich der ganzen Idee gegenüber eigentlich sehr positiv eingestellt bin; ich wäre froh, wenn unser Drittklässler nur mal ein Buch mehr als gewöhnlich in die Hand nehmen würde…

Der Groschen bezüglich meiner Gefühle fällt, als ich ihm am nächsten Morgen vom Wettbewerb erzähle. Er ist Feuer und Flamme. Er liebt Wettbewerbe! Er holt sich gleich die dicksten Bände vom Magischen Baumhaus aus dem Regal, schnappt sich ein anderes Buch (mit doch verhältnismäßig viel Text) und beginnt sofort zu lesen. Er denkt nicht nur in Buchdicke, und Comics kommen ihm gar nicht in den Sinn (später dämmert es ihm dann schon ;)). Er denkt überhaupt nicht ans strategische „Bescheißen“ – und selbst wenn, es ging ja vor allem mal um die Buchdicke und ums Lesen generell – nirgends stand wie viel…  

Ich merke, wie ich mich ein bisschen schäme für uns Eltern. Schäme, weil wir so oft schon von vornherein davon ausgehen, dass unsere Kinder uns belügen oder betrügen werden, dass sie den Weg des geringsten Widerstandes gehen werden. Vor allem schäme ich mich, weil wir von ihnen erwarten, dass sie besser sind als wir. Oder woher sonst kommen all diese Dinge, die wir unseren Kindern unterstellen – wenn nicht aus unseren eigenen Gedanken?

Und überhaupt – wie ist das eigentlich mit der Wahrheit?

Sagen wir immer die Wahrheit? Sind wir immer ehrlich zu uns, zu anderen? Warum fällt es uns so schwer, unseren Kindern zu vertrauen? Zu vertrauen mit dem Wissen, dass sie Menschen sind, die uns mit Sicherheit auch immer wieder mal nicht die Wahrheit sagen werden – genauso wie wir es auch tun. Und ohnehin – Wahrheit ist aus unserer menschlichen Perspektive betrachtet, etwas komplett Subjektives. Und sowieso, wer behauptet, dass er immer die Wahrheit sagt, der lügt!

Nach all den Jahren, nach all den Fehlern und nach allem, was auch in meinen Augen schief lief in meiner Kindererziehung, bin ich mehr denn je von einer Sache überzeugt:

Wer seine „Kinder-Beziehung“ auf Vertrauen aufbaut, hat auch im Falle eines Missbrauchs beste Chancen in einen Dialog einzusteigen (Ich spreche hier nicht von schon zutiefst geschädigten Kinderseelen… und selbst da führt in meinen Augen nicht wirklich ein Weg daran vorbei).

Denn wer Vertrauen schenkt, wird mit Vertrauen belohnt.

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.