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Ausschlafen

Last updated on 21. Januar 2021

Zwar ist Jona nicht mehr am Leben. Die Gedanken und Gefühle von damals nochmal hochzuholen, scheint nicht unbedingt wesentlich. Trotzdem, sie sind immer noch in mir.

– Er schlief aus. Offensichtlich. Der Tag gestern war anstrengend gewesen. Aber normalerweise schlief er nicht so lang. Ich ging meinen Sachen nach und ermahnte mich, mir nicht so viele Gedanken zu machen. Aber es wurde immer später. Und all die Gespräche und die Informationen in meinem Kopf wurden immer lauter. „Es ist alles okay. Er ist okay“, beruhigte ich mich immer wieder. Doch dann konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich musste gehen und nachsehen „Atmet er noch? – Ja. Gott sei Dank!“ Du denkst vielleicht, das klingt leicht bescheuert. Naja, das denk ich selbst manchmal. Auch heute noch.

Aber die Erinnerungen waren da, immer in meinem Kopf. Die Erinnerung, wie ich mein Kind aus dem Zimmer nahm, während ein Arzt mich über die Risiken und Langzeitschäden der geplanten Bestrahlung aufklärte. Verbrennungen, extreme Müdigkeit, Schlaganfall, Hormonstörungen… Jona war schon ohne all das so krank und schwach. Ich legte ihn auf eine Reihe aneinandergestellter Stühle, ging zurück ins Zimmer und meinte zu dem Arzt: „Mal ganz ehrlich: Wollen Sie mir das ausreden?“

Es fiel mir schwer alles das, was ich gesehen und gehört hatte, hinter mir zu lassen und vorwärts zu schauen und zu glauben, dass alles gut werden kann. Sorglos im Hier und Jetzt zu leben, ging nicht so einfach. Ich war mir völlig bewusst, dass mit einem Wimpernschlag ein Leben von Grund auf ein anderes werden konnte.

Es war schön zu sehen, wie viele Menschen um uns sich freuten über all die guten Nachrichten hinsichtlich Jonas Gesundheit. Von ihrer Perspektive aus betrachtet, ging es ‚aufwärts‘ für uns. Aber – sie waren nicht mit mir beim Aufklärungsgespräch gewesen. Sie hatten nicht all die Kinder kennengelernt, die wieder und wieder in die Klinik kamen, weil es hieß „Der Krebs ist zurück.“ Sie hatten nicht gesehen, wie ein Bett aus einem der Zimmer geschoben wurde, ein Tuch bis übers Kopfkissen gezogen. Und sie hatten nicht die Kerzen gesehen, die immer wieder mal auf Station angezündet wurden, weil ein Kind gestorben war.

In dieser Zeit mag das wie ein Dämpfer für die Euphorie mancher Gesprächspartner gewirkt haben, wenn ich zugab, dass trotz allem meine Freude verhalten ist. In guter Absicht hat mancher versucht mich freundlich daran zu erinnern, wie gut doch alles geworden war, und wie dankbar das jemanden mache, der mit uns gehofft habe. Ihren Versuch, meine Gedanken in die richtige Richtung zu lenken, hab ich geschätzt. Ihren Versuch, mein Augenmerk auf das Gute zu richten. Doch nur, weil ich offen von meinen Ängsten und Befürchtungen sprach, hieß das nicht, dass ich alles Gute vergessen hatte.

Und in genau solchen Situationen wurde mir klar, meine Gefühle haben nur wenig Platz in dieser Welt, in der man „einfach halt positiv denkt“, oder in der man „einfach halt fest dran glaubt, dass alles gut wird“. Und genau solche Situationen haben mich gelehrt, vorsichtig zu sein, mit wem ich meine Empfindungen teile. Denn das ist ein total doofes Gefühl, wenn du jemandem sagst „Du, ich hab echt Angst…“, und der dir dann sagt „Das tut nicht gut, so zu denken. Schau doch nach vorn. Bestimmt wird alles gut!“

Und es lag mir am Herzen – und tut es auch heute noch – euch zu sagen, wie sehr Kinder wie Jona, Familien wie die unsere, Menschen brauchen, denen sie vertrauen können, wenn es um ihre echten Gefühle geht. Sie brauchen Menschen, die zuhören und bereit sind mitzutragen. Denn ihre Welt ist auf den Kopf gestellt worden, und die Narben sind tief und immer noch zu sehen – auch nach all den Jahren, wenn die meisten Menschen schon längst wieder vergessen haben, was deren Ursache war. Denn alles, was war, all die schweren Dinge und harten Zeiten, das ist nichts, was man einfach mal so ‚weg-hoffen‘ kann.

Und trotzdem, das geht – man kann mit den Nachwirkungen kämpfen und nur schwer zurechtzukommen, und doch tief im Herzen dankbar sein, dass man am Leben ist.

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.