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Chasing cars

Last updated on 21. Januar 2021

Ich erinnere mich noch, wie glücklich Jona war über den Onkel-Besuch. Wie wir uns dann auf einer Bank vor dem Krankenhaus schlapp gelacht haben, weil doch ernsthaft eine Frau auf Jonas Kaugummi-Attrappe mit versteckter Kakerlake reingefallen war. Die Zwillinge meines Bruders waren damals noch gut verpackt im Bauch meiner Schwägerin. Wer hätte damals gedacht, was für ein holpriger Start ihnen bevorstehen würde.

Und dann waren sie endlich daheim. Endlich! Nach Wochen an Kabeln und Schläuchen, OPs und unendlich viel Angst und Sorge, waren sie endlich stabil genug für einen Umzug nach Hause. Wir wollten sie sehen. Einfach nur mal kurz auf den Arm nehmen – und uns verzaubern lassen. Drum setzten wir uns das Wochenende drauf kurzerhand ins Auto und fuhren in 38 Stunden vom tiefen Süden bis in den hohen Norden – und dann wieder zurück.

Wir bestaunten das Zwillingswunder oder besser gesagt, die beiden Überlebenskämpfer. Wir hielten sie im Arm und schlossen sie ins Herz. Wir aßen Pizza aus dem Karton. Tranken Bier aus der Flasche. Schlugen unser Schlafsacklager auf Sofa und Boden auf. Am nächsten Morgen dann noch ein Spaziergang über die Reeperbahn auf der Suche nach dem besten Frühstück auf St. Pauli. Doch wie das oft so läuft, sind wir dann irgendwann beim Bäcker in der Seitengasse gestrandet. Wir nahmen die Familie in den Arm – jeden nochmal gedrückt. Tränen runtergeschluckt. Billigste Tankstelle Hamburgs. Autobahnessen. Zu viel Fritten. Zu viel Eis. Und schließlich wieder daheim im Wohnzimmer.

Das ging alles so schnell. Und es waren zu viele Emotionen in so kurzer Zeit. Erst als ich daheim wieder zur Ruhe kam, ging mir alles nochmal durch den Kopf. Aus welchem Tal war die Familie meines Bruders gerade dabei sich rauszukämpfen? Wie wird alles weitergehen? Durch welche Tiefen waren wir gerade durchgegangen? Was würde noch kommen – für uns als Familie, für Jona?

Und ich hatte dann nochmal diesen einen Moment mit Jona vor Augen. Wir waren gerade nach langer Fahrt im Norden angekommen. Ich suche ihn und finde ihn auf einem Hochbett. Er schaut auf die Straße – die Autos zählt er, so sagt er mir. Ich setze mich neben ihn, und Chasing Cars von Snow Patrol bekam eine neue persönliche Bedeutung ‚If I lay here//if I just lay here//would you lie with me and just forget the world//[…]//let’s waste time//chasing cars//around our heads‘.

Jona war gerade wieder einmal dem Tod entronnen. War da nur Freude? Nein. Da war so viel Unsicherheit. Da war Angst, dass der Krebs doch wiederkommt, und die Tortur von vorne beginnt. Und da war Angst vor dem Wiedereinstieg ins Leben. Er war müde. Müde vom Kranksein. Und auch müde sich durchs Leben zu kämpfen. Was sollte ich ihm sagen? – Dass alles toll wird? Dass er doch dankbar sein soll, dem Tod nochmal von der Schippe gesprungen zu sein? So einfach war das alles nicht.

Und ich schrieb damals auf: „Es gibt schöne Zeiten, die doch von einer begründeten Schwere überschattet sind. Kann man einen Menschen überreden, zwingen glücklich zu sein – mit einer Situation klarzukommen, die schwer und belastend ist? Es gibt so viele Bücher, so viele Tipps, unendlich viele Ratgeber und Erfahrungen. Doch letzten Endes kann nichts diesen Prozess ersetzen, der in jedem betroffenen Menschen persönlich und auf individuelle Weise stattfinden muss. Es ist nicht nur ein Willensakt, keine bloße Entscheidung – keine reine Kopfsache… es ist mehr – etwas, das wir nicht greifen können. Ein Geschenk?“

Und mit diesem Gefühl im Herzen blieb ich einfach bei ihm sitzen, damals auf dem Hochbett. Tun? – Konnte ich nicht wirklich was. Sagen? – Geholfen hätte nichts. Aber ich konnte da sein. Ihn nicht alleine lassen. Einfach da sein. Und gemeinsam Autos zählen.

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.