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Ungeteiltes Leid

Immer wieder stell ich die Pflege deines Grabes hinten an. Genau wie die Pflege meiner Beziehung zu dir. Immer gibt es Wichtigeres zu tun. Und trotzdem fehlst du mir. Immer noch. Auch nach all den Jahren. Auf deinem Grab wächst gerne Gras und Moos. Aber auch Gänseblümchen und Walderdbeeren, die sich schön und ungezähmt auf der ganzen Fläche ausbreiten würden, würde ich sie nicht im Zaum halten. Denn ich wünsche mir auch Platz für meine Blumen, für die, die ich dir bringe. Nicht nur Platz für die, die von selbst gekommen sind, so als hättest du sie ausgesucht. Also rupfe ich immer mal wieder einen großen Teil davon aus und pflanze ein, was ich dir mitgebracht habe. 

Heute hab ich mir Zeit genommen. Zeit für dich. Nicht Zeit für dein Grab. Blumen zu pflanzen ist keine Sache, mit der ich generell meine Zeit vertreibe. Es ist Zeit für dich. Zeit mit dir. Meine Gedanken laufen. Erinnerungen, Bilder, Geschichten kommen und gehen. Ich sehe Regenwürmer und frage mich, wie dein Körper jetzt wohl aussehen mag. Verwerfe den Gedanken und führe mir wieder vor Augen, wie du warst. Wer du warst. 

Ich spüre den Blick des älteren Mannes, wie er nun schon zum zweiten Mal an mir vorbeiläuft. Ich blicke nicht auf. Spüre aber wie er kurz auf Höhe deines Grabes zögert, versucht Blickkontakt aufzunehmen. Er wird noch zweimal an mir vorbeilaufen. Und jedes Mal ignoriere ich ihn. Ich bewege nur weiter energisch meinen goldenen Acryl-Edding auf der Oberfläche auf und ab. Die Farbe will nicht recht rauskommen um den Schriftzug auf der Tafel nachzuziehen, auf der dein Name und dein Geburts- und Todesjahr stehen. Den fremden, interessierten, oder vielleicht auch nur Not leidenden Blicken, denen weiche ich aus.

Als ich ein paar Tage später an dem Grab vorbeilaufe, an dem dieser Mann Blumen gepflegt hat, sehe ich, er trauert wahrscheinlich um seine Frau – sie muss kürzlich verstorben sein. Ich fühle mich schlecht. Vielleicht wollte er reden. Vielleicht hätte es ihm gut getan. Aber genau das wollte ich nicht in diesem Moment. Ich wollte nicht reden. Wollte kein Mitleid von anderen. Und wollte auch anderen kein Mitleid entgegenbringen. War ich doch gekommen um Zeit mit dir zu verbringen. 

Aber wäre es nicht doch gut gewesen, frage ich mich. Denn ist geteiltes Leid nicht halbes Leid? Christian Thies hat darüber andere Gedanken: „Der gemeinsame Nenner all dieser Geschichten besteht darin, dass man dem Leid hilflos ausgeliefert ist, dieses also nicht bekämpfen, vermindern oder beseitigen kann. Es handelt sich um Sprichwörter, die Trost spenden sollen. Empirisch-psychologische Studien deuten sogar darauf hin, dass geteiltes Leid zwar nicht doppeltes Leid ist, aber doch die eigenen Schmerzen steigert. Wenn ich sehe, wie außer mir noch viele andere leiden, werden meine eigenen negativen Gefühle verstärkt. Ebenso vergrößert sich mein Wohlbefinden, wenn andere mit mir glücklich sind. Insofern trifft der Parallelspruch „Geteilte Freude ist doppelte Freude“ eher zu! Möglicherweise sind die vor einigen Jahren von italienischen Hirnforschern entdeckten Spiegelneuronen an diesem Intensivierungseffekt beteiligt.“(1)

Ein Autor in der Süddeutschen geht allerdings doch weiter. Unter der Überschrift „Geteiltes Leid ist doppeltes Leid“ schreibt er: „Allein das Wissen darum, eine Erfahrung mit anderen zu teilen, scheint diese aber zu verstärken. Die Psychologin Boothby, Hauptautorin der Studie, untersuchte dies mit Schokoladenverkostungen. Sie ließ Probanden – mit oder ohne Gesellschaft – eine feine sowie eine ungenießbar bittere Variante probieren. Aßen zwei Tester von der guten Schokolade, verstärkte dies das positive Urteil über deren Geschmack. Das Gleiche galt für die extrem bittere Variante: Probierten zwei Probanden davon, empfanden sie den Geschmack noch widerlicher, als wenn nur ein einzelner Tester davon abbiss. “(2)

Und vielleicht ist es das, was sich verändert hat mit den Jahren ohne dich. Ich will nicht mehr so viel über dich reden; manchmal fühlt es sich an, als reibe ich dich dadurch ab. Ich will nicht zu viel teilen und nicht zu viel mitgeteilt bekommen. Es kostet wertvolle Kraft, von der ich das Gefühl habe, sie wird nicht unbedingt mehr.

Vielleicht aber auch muss ich einfach nicht mehr so viel über dich reden, weil ich glaube meinen Weg gefunden zu haben, wie ich weitergehe ohne dich an meiner Seite. Denn ich will dich mit mir tragen, dich bei mir wissen, auch wenn ich weiß, nichts bringt dich mehr zu mir zurück. Denn ganz gleich, wo und ganz gleich wie du jetzt bist… keine noch so oft erzählte Geschichte, kein noch so lang angestarrtes Bild, keine noch so oft heraufbeschworene Erinnerung und keine noch so viel geteilte Traurigkeit wird dich je wieder werden lassen – werden, wer du warst und immer noch bist – für mich. 

(1) Prof. Dr. Christian Thies (Universität Passau) in PASTA!, Juni 2017, S. 30/31

(2) Sebastian Herrmann in https://www.sueddeutsche.de/wissen/psychologie-geteiltes-leid-ist-doppeltes-leid-1.2167772

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.