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Ein bisschen wie Jona…

Last updated on 21. Januar 2021

Ich habe ganz unterschiedliche Menschen kennengelernt, die ihr Kind verloren haben. Für die meisten von ihnen ist zumindest in der ersten Zeit nach dem Tod das Grab zu einem wirklich wichtigen Ort geworden. Nur vereinzelt weiß ich von welchen, die eher Abstand zum Friedhof wollen oder wollten. Was gut für den einzelnen ist, und was er oder sie braucht, das ist so unterschiedlich, wie die Menschen unterschiedlich sind. Einzelne Reaktionen auf Schicksalsschläge als besser oder schlechter einzustufen – das macht keinen rechten Sinn.

Eine wirklich weise Frau hat mir mal erzählt, wie jemand über Eltern, die ihr Kind verloren hatten, sagte „Die machen das gut…“ und wie sie dann nur meinte, ob es wirklich angebracht sei, in diesen Dingen ein solches Maß anzulegen… Denn, dass ein Mensch, der eigentlich noch da sein sollte, jetzt fehlt, das an sich ist schon so falsch – kann man da dann von einem individuellen Umgang mit dieser Tatsache als „richtig“ oder als „gut“ sprechen?  

Lange hatten wir Zeit uns Gedanken zu machen über Jonas „letzte Ruhestätte“ (wie man das immer so geschwollen sagt – aber es passt eben schon…). Wir sind sogar noch gemeinsam mit ihm zu einem Friedwald gefahren und haben mit ihm einen Spaziergang zwischen den Bäumen gemacht, neben denen die Urnen beigesetzt sind. Jona war das alles ziemlich egal. Ich weiß nur noch, wie er nach einer halben Stunde meinte „Und – wann gehen wir jetzt zu Burger King?“.

Die Entscheidung für eine Erdbestattung auf dem Friedhof, der auf dem Schulweg der Kinder liegt, ergab sich dann schlussendlich aus dem Gespräch mit Jonas Brüdern. Jonas Grab liegt schön… obwohl der Friedhof nicht der kleinste ist, kann man an seinem Grab mal kurz „vorbeischneien“. Aber es liegt recht exponiert. Das war uns bewusst. Wir hätten uns sicher einen intimeren Platz aussuchen können; und es gibt Momente, in denen ich mir kurz wünsche, das Grab wäre nicht direkt am Weg.

Aber die Position des Grabes entspricht unserer persönlichen Einstellung, welche wiederum Jonas Art entspricht, mit dem Tod umzugehen. Offen sein. Sichtbar. Nicht immer leise. Vielleicht mal eher zu laut. Nicht zu übersehen. Eine indirekte (Er)Mahnung.

Jona erzählte den Leuten, warum er war, wie er war. Immer wieder mal musste ich ihn allein beim Bäcker an der Ecke rauslassen. Da ist er dann einen heißen Kakao trinken gegangen. Und wenn er dann wieder nach Hause gestakst kam („Das schaff ich schon alleine, Mama…“), dann erzählte er mir von Gesprächen mit irgendwelchen Leuten dort, denen er erklärte, dass er einen Tumor im Kopf hat und eventuell sterben muss.

Die Menschen hatten keine Wahl, als zuzuhören und nachzudenken über das, was sie gehört hatten. Genauso wie viele Menschen, die auf dem Friedhof ein- und ausgehen, keine andere Wahl haben, als Jonas Grab zu bemerken, zu bemerken, wie jung er nur war und zu bemerken, was sich am Grab abspielt. Wie sie keine Wahl haben, als über sein Leben ins Grübeln zu kommen – genauso wie ich jedes Mal ins Grübeln komme, wenn ich am Grab eines Jungen vorbeilaufe, an dem auch (so nehme ich an) sein Vater beerdigt ist – verstorben fast genau ein Jahr nach dem Tod des Jungen.

Und so passiert es immer wieder mal, dass mich jemand anspricht, wenn ich an Jonas Grab am Herumwurschteln bin. Meistens spüre ich verhaltene Blicke. Selten, aber immer wieder mal, ergibt sich ein Gespräch. Die Dame heute meinte nur, sie bewundere jedes Mal das liebevolle Grab. Fragt mich, ob es mein Sohn sei, und ob ich noch einen habe. Ich habe noch drei, sage ich. Sie habe noch nicht so lange her wohl einen von ihnen gesehen… Er habe förmlich das Grab gestreichelt.

Sie war nicht neugierig, diese Dame. Sie war bewegt. Wer weiß, was – oder wer – sie mit ihren Blumen auf den Friedhof verschlägt. Jona hätte auch mit ihr gequatscht und mir dann von „der netten Omi“ erzählt… Wir wechseln noch kurz ein paar Worte darüber, wie doch jeder Tod anders ist und wie selbst ein „angebrachter Tod“ (wie der einer Mutter, die schon alt und Oma war) nicht weniger schmerzt, und wie es ja aber eigentlich doch eine „Ordnung“ gibt – dass Kinder nicht vor den Eltern sterben…  

Sie wünscht mir noch viel Kraft (so viele sind es nicht mehr, die denken, dass ich die noch brauche – so zwei Jahre danach). Und ich – ich fühl mich ein bisschen wie Jona…

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.