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Tragen helfen

Last updated on 23. März 2021

Ich sehe mich noch ganz klar. Weiß noch, wo ich mir damals unser Laptop hingestellt hab, Bügelbrett und -eisen bereitstehend, die Wäsche im Korb. „Okay, gibt’s irgendwas, was mich interessiert, und was mir das Bügeln versüßt?“ Ich mag Bügeln nicht besonders…

Wie ich durch die ARD-Mediathek stöbere, finde ich ein Interview mit Mircos Eltern – der Junge, der 2011 einfach so auf dem Nachhauseweg verschwand und nach der Festnahme des Täters gefunden wurde – vergewaltigt und ermordet.

Und wie ich so zuhöre, wie Reinhold Beckmann Frage um Frage stellt, die Eltern beklemmend ehrliche Antworten geben, schäme ich mich für meine Gedanken „Es ist möglich ein Kind zu verlieren und nicht daran zugrunde zu gehen…“ denke ich. „Das hast du nicht gerade gedacht! Was für Gedanken hast du! Wie anmaßend! Wovon diese Eltern sprechen ist das Schlimmste, was Eltern je widerfahren kann! Und du wagst es sowas zu denken!“ Ich will das nicht denken! Noch nie hab ich bei so einer Sache sowas gedacht…

Auf den Tag des Interviews, vier Monate später erhält Jona die Diagnose Hirntumor. Und dann erinnere ich mich, wie Mircos Mutter erzählt hat von ihren Gefühlen, die sie in den Wochen vor Mircos Verschwinden umgetrieben hatten. Ich erinnere mich…

„Kein Mensch kann den anderen von seinem Leid befreien, aber er kann ihm Mut machen, das Leid zu tragen.“ Lese ich heute dieses Zitat von Selma Lagerlöf im Insta-Status des Fördervereins für krebskranke Kinder in Tübingen. Das macht mir Mut. Hab ich doch gerade gestern etwas öffentlich geschrieben, bei dem ich mir nicht sicher war, ob es zu intim ist.

Doch genau da erinnere ich mich wieder an das Interview damals und meine Gedanken, für die ich mich immer noch irgendwie schäme… Aber rückblickend kann ich alles besser einordnen. Durch diese Gedanken war ich nicht mehr komplett unvorbereitet auf das, was später kam.

Gestern Abend unterbricht einer meiner Jungs meine Arbeit und zeigt mir seinen Lego-Linienbus, den er nun umgebaut hat zu einer Art Wohnmobil. „Wie die Real Life Guys… Weißt du, der eine Bruder von denen muss sterben. Deswegen haben die jetzt einen Bus umgebaut und haben mit ihrem Bruder nochmal einen Roadtrip gemacht. Aber der hat keine Angst, der weiß, er kommt in den Himmel…“.

Und da kommt es mir… Es ist so wichtig zu erzählen. So wichtig, dass, wer reden kann von seinem Schicksal, dass der auch davon redet. Dass man erzählt – auch von den nicht so schönen Dingen im Leben.

Einfach erzählen. – Nicht sich drin suhlen und ausschlachten, schlechte Gefühle nähren, negative Gedanken bis zur Wut aufbauschen… Nein, einfach nur erzählen. Ehrlich sein. Reflektieren. Ich sein. Du sein. Teilhaben lassen. Mut machen. Tragen helfen.

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.