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Brückenbauer

Last updated on 1. März 2021

„Ich denke ja nicht, dass Sie faul sind…“ – Naja, aber eine solche Aussage von meiner etwas in die Jahre gekommenen Nachbarin, ließ mich dann doch annehmen, dass in ihren Gedanken durchaus die Möglichkeit existiert, dass das doch der Fall sein könnte. Grund dafür – ich hatte meine Kehrwoche nicht so gemacht wie alle anderen. Erklärung dafür – ich bin nicht faul, sondern ich seh das nur etwas anders mit der Kehrwoche (und ja, ich kehre auch – dann wenn Dreck daliegt; und nein, die Kehrwoche hat bei mir nicht oberste Priorität).

Muss man daraus schließen, dass eine Mutter mit zwei kleinen lebhaften Kindern und einem Säugling (was ich zu diesem Zeitpunkt war) faul ist? – Man kann. Man muss aber nicht. Und sowieso – eine Mutter mit drei kleinen Kindern, die gut ernährt sind, saubere Klamotten haben, denen vorgelesen und mit denen gespielt und gekuschelt wird, so eine Mutter kann gar nicht faul sein. Das geht gar nicht!

Immer wieder begegnen mir solche Aussagen. Aussagen mit einem Unterton. Aussagen, die nicht nur feststellen, sondern auch gleichzeitig werten – bewerten oder gar abwerten. Womöglich reagiere ich besonders sensibel auf solche Aussagen und analysiere einfach nur zu viel. Aber das ist es, was ich gelernt habe. Ich habe gelernt, zu verstehen. Ich habe gelernt, Gesagtes gegebenenfalls zu interpretieren, um es dann für Menschen, die eine andere Sprache sprechen, verständlich wiederzugeben. Ich bin Übersetzerin.

Übersetzen bedeutet, den Hintergrund verstehen, um Besonderheiten wissen, auf Ausdrucksformen achten, Zusammenhänge sehen, die Zielgruppe kennen, beobachten… Übersetzen ist mehr als nur Vokabeln können. Denn Übersetzer sind sowas wie Brückenbauer. Nicht umsonst spricht man vom Übersetzerhandwerk.

Und vielleicht kommt es genau daher, dass es mich irritiert, wenn die Spaziergängerin, die mir im Wald entgegenkommt, zu meinen Hund meint „Oh, du musst aber streng mitlaufen…“ Denn ich hatte die durchgeknallte Mia höflicherweise kurz am Halsband mitgeführt, damit sie sich nicht doch eventuell entscheidet, eben diese Dame zu begrüßen. War das jetzt Kritik? – Das war Kritik! Nein, das war Mitleid mit dem Hund! „Was auch immer!“ denke ich mir. Warum in aller Welt kommentieren Menschen etwas mit einer negativen Note, obwohl sie gar nicht genau wissen, was Sache ist?!

Warum ist es so oft der Fall, dass wir etwas sehen und es nicht einfach als das stehen lassen können, was es ist? Nein, wir müssen kommentieren, werten oder eine Meinung dazu haben. Nicht, dass ich damit sagen will, dass man nicht ansprechen darf, was einen stört. Im Gegenteil, Dinge anzusprechen ist wichtig. Zu sagen, was wir nicht gut finden, was wir uns anders wünschen würden. Aber all das nur, solange uns eine Sache auch wirklich betrifft.

Man muss nicht alles gut heißen. Man muss nicht alles mitmachen. Man darf eine Meinung haben. Aber nicht ohne vorher versucht zu haben, hinter die Kulissen zu schauen. Oder – um die Kurve zum Übersetzer zu bekommen – nicht ohne „übersetzt“ zu haben. Denn – eine Wertung über einen Menschen in sich zu tragen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, zu erklären oder besser verstanden zu werden – das kann viel zerstören. Und wer zu schnell ein vorgefertigtes Bild von einem Menschen zulässt, ohne ihm die Chance einzuräumen, zu sein, wie er eben ist – nämlich schlicht und ergreifend einfach anders… Wer dazu nicht bereit ist, der baut Mauern und keine Brücken.

Und das wünsche ich uns jetzt, und das hätte ich auch Jona noch viel mehr gewünscht: Dass Menschen genauer hinsehen. Dass sie aufmerksamer zuhören. Dass Menschen, dass wir alle uns eingestehen, nicht jede Situation bis ins Detail überblicken zu können. Dass wir alle ein bisschen mehr versuchen zu verstehen, zu übersetzen. – Dass wir alle ein bisschen mehr Brückenbauer sind.

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Julia ist Jahrgang 1981. Vor Jahren hat sie mal das Übersetzerhandwerk gelernt, heute schreibt sie Lieder und arbeitet als Sängerin und Stimmtrainerin. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Zimmerpflanzen mag sie eigentlich gern, hat ihren Kopf aber lieber in Liedern und ihre Finger am Klavier, sodass diese in ihrem Haus meistens kein allzu langes Leben haben. Kuchen bäckt sie so ungern, dass, wenn sie’s doch mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.