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Haste Töne?!

Last updated on 21. Januar 2021

Ich sitze im anderen Stockwerk. Kann gerade nicht weg. Aber ich höre, wie mein Klavier bearbeitet wird. Normalerweise würde ich sofort ermahnend auf der Bildfläche erscheinen. Da ich in diesem Moment aber nicht kann, lausche ich nebenbei intensiv und mit größter Anspannung den Klängen. „Das war jetzt zu fest… Oder doch nicht? Drückt da jetzt einer dauernd voll fest aufs Pedal?!“ so mein innerer Dialog. „Einem gewissen Maß an Kraft muss ein Klavier ja standhalten, oder? Ich hau ja auch manchmal ganz schön fest in die Tasten…“. Ich zwinge mich, nicht zu kritisch zu denken und übe mich darin, das Gute an der Sache zu sehen. Denn – eigentlich bin ich fasziniert von dem, was mit Menschen passiert, wenn sie ihre Kraft in Töne verwandeln.

Und dann sehe ich mich selbst noch als Kind im Flur auf der Treppe sitzen, wo ich gefühlte Stunden lang meine Stimme in einem Art Mönchsgesang ausprobiere. Erinnere mich an meinen Bruder, der meine Mutter fast in den Wahnsinn trieb, weil es ihm irgendeine Art von Befriedigung verschafft haben muss, während dem Schaukeln im Wohnzimmer (ja, wir hatten im Wohnzimmer eine Schaukel!) aus vollem Hals immer und immer wieder, wie eine hängengebliebene Schallplatte „Alle Vöglein sind schon da. Alle Vöglein sind schon da. Alle Vöglein…“ zu singen.

Wie oft schon bin ich knapp an einem Hörsturz vorbeigeschrammt, weil unser Schlusslicht es genießt, von seiner kompletten Stimmgewalt Gebrauch zu machen, wenn man ihn bittet, einen seiner Brüder zu rufen. Und er hat ein Organ! – Das kann ich euch sagen! Er schreit für sein Leben gern. Für manchen Nachbarn schreit er definitiv zu viel und zu laut. Für mich manchmal schon auch. Aber immer wieder denke ich mir, er hat auch allen Grund zum Schreien… Er hat allen Grund, diese Kraft herauszulassen, die durch all die Gefühle, die tief in ihm herumschwirren, freigesetzt wird – Gefühle der Angst, der Traurigkeit, der Irritation, der Wut, der Enttäuschung, der Unsicherheit und auch der Freude, der Liebe und der tiefen Verbundenheit. Er hat allen Grund, diese Kraft, die in ihm steckt, in laute und feste Töne zu verwandeln.

Wer einen Ton erzeugt, der hört nicht nur… der fühlt, der sieht, der bewegt – etwas, sich oder wird bewegt. Ich weiß noch, wie Jona an guten Tagen oft gern mit seiner Stimme gespielt hat. Manchmal hat er dann ganz hoch und weich gesungen „Hör mal, Mama, wie klar das klingt!“ Und wenn dann in der Klink der Musiktherapeut nach einer Runde Singen und Rasseln das Zimmer verließ, war es, als wäre mal wieder gelüftet worden. Die „Luft“ in Herz und Hirn war wieder klarer, die Kräfte besser im Körper verteilt (auch wenn auf dem Weg dahin doch mal eine Rassel zu Bruch gehen musste), und die Gefühle waren für eine Weile mal wieder im Lot.

Denn wer meint, Töne sind nur fürs Ohr, der hat nicht wirklich Ahnung. Töne sind fürs Herz und für den Körper – das Ohr ist „nur“ sowas wie eine Pforte.

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.