Zum Inhalt springen

Nicht alleine fühlen müssen

Neben uns ist eine große Baustelle. Ich sitze hier den ganzen Morgen lang an meinem Schreibtisch – mit Blick auf den Kran, der neuerdings steht. Kein so ein Kran, der vom Boden aus gesteuert wird, sondern so ein richtig Großer. Ein Kran, in dem tatsächlich den ganzen Tag ein Mensch sitzt.

Was der Mensch da oben wohl denkt? Ist er fasziniert davon, dass er diese andere Perspektive hat, diesen Überblick, diesen Weitblick? Dass er mehr sieht als alle anderen? Oder ist er eher genervt davon, dass er den lieben langen Tag lang hoch oben in einer Kabine „eingepfercht“ ist?

Manchmal hab ich mich schon gefragt, ob er auch da oben schläft, dieser Mensch. Hat der da ein Klo? Weil ich hab ihn noch nie hoch und runter gehen sehen. Naja, andererseits – vielleicht entgeht mir auch so manches… Arbeite ich ja schließlich auch etwas und beobachte nicht die ganze Zeit, was sich am Kran tut ;).

Und wahrscheinlich ist alles nur halb so spektakulär… und letzten Endes denkt er eigentlich nur an seine Baustelle. Wenn dieser Mensch wüsste, wie viele Gedanken ich mir über ihn mache! Und wie ich sogar anfange, mein Leben mit seinem Job als Kranführer zu vergleichen. Der würde wahrscheinlich rüberkommen und mir eine Schaufel in die Hand drücken. „Tu mal was Gescheites!“ würde er wahrscheinlich sagen.

Und trotzdem – ich kann mir nicht helfen… Ich denke über mein Leben nach – finde Parallelen. Fühl ich mich nicht auch manchmal so, als sei mein Leben eine Krankabine? Es hat mir eine andere Perspektive beschert – mein Leben. Ich seh es nicht mehr nur „vom Boden aus“. Hab gesehen, dass da verschiedene Wege sind, um an ein und denselben Ort zu gelangen. Leichtere Wege. Schwerere Wege. Berge. Täler.

Und trotz all der Weitsicht und dem anderen Blick aufs Leben (oder vielleicht gerade deswegen) fühle ich mich in einer bestimmten Weise eingeschränkt. In meinem Radius – im stinknormalen Alltag… und vor allem gefühlsmäßig. Eingeschränkt durch all die Dinge, die mich in diese Position gebracht haben. Ich sitze hier mit dem, was mir diesen Weitblick verliehen hat; ich sehe mehr und fühle tiefer – und kann mich doch irgendwie nicht frei bewegen.

Da ist Traurigkeit die mich immer mal wieder lähmt. Da sind Erinnerungen, die mich in bestimmter Weise örtlich und emotional begrenzen. Da ist Angst, die mich sehr vorsichtig gemacht hat. Da ist eine Sehnsucht nach Tiefe, die es mir oft unmöglich macht, mich einfach mal treiben zu lassen. Da sind Narben, die es mir manchmal schwer machen, das Herz ganz zu öffnen.

Ich glaube – wie mir, so geht es vielen Eltern, die ein Kind verloren haben. Oder Eltern, die nicht in der Weise mit ihrem Kind zusammenleben können, wie es eigentlich „normal“ wäre. Sie haben gewonnen – und doch verloren. Oder verloren – und doch gewonnen? So einfach kann man das nicht sagen.

Was ich hier beschreibe, mag möglicherweise für manchen Außenstehenden deprimiert klingen. So, als hätte ich aufmunternde Worte nötig. Natürlich bin ich immer wieder niedergeschlagen und fühle mich traurig („Wäre auch komisch, wenn es nicht so wäre“ pflege ich immer wieder zu betonen). Doch ich schreib das nicht, weil ich Mitleid möchte oder aufgemuntert werden will. So ist es nicht. Ich kann schon von alleine auch wieder fröhlich sein.

Ich schreibe das, weil ich mir wünsche, dass man ein bisschen besser versteht, ein bisschen mehr Verständnis hat, für Eltern, für eine Mutter, für Menschen, deren Kind beides ist – ein Loch im Herzen und doch ein funkelnder Stern.

Und ich schreibe das, weil ich weiß, dass es gut tut, und ich mich nicht mehr so alleine fühle, wenn ein anderer mir ehrlich sagt „Es tut weh! – Es darf! Es ist okay zu fühlen. Wut zu fühlen. Dankbarkeit zu fühlen. Trauer zu fühlen. Freude zu fühlen. Es ist okay, nicht zu wissen, was man fühlen soll, wie man fühlen soll. Mehr Weitsicht – oder doch nur eingeschränkt. Es ist okay.“

Ich schreibe ganz einfach – weil es gut ist, nicht alleine fühlen zu müssen.  

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.