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Was der Kopf weiß…

Last updated on 18. April 2021

Ich weiß noch, wie am Morgen des siebten Juni 2018 einer unserer Söhne Jonas leblosen Körper geschüttelt hat, so doll, bis ich ihm befahl aufzuhören „Er wird nicht mehr wach… Er ist tot.“ Das muss man erst mal verstehen, dass man jemanden nicht doch noch irgendwie aufwecken kann. Dass er nicht vielleicht doch gleich „einen Schnapper“ macht und weiteratmet. Und selbst wenn der Kopf das verstanden hat…

Noch zu gut erinnere ich mich an all die Tischgebete (Ja wir sprechen Tischgebete – meistens. Wobei ich dieses Wort Tischgebete immer etwas zu überladen finde, bin ich doch der Meinung, dass es das Selbstverständlichste auf der Welt sein sollte, sich für etwas zu bedanken, das man bekommen hat; denn spätestens dann, wenn man es nicht mehr hat, wird man schreien. So viel dazu…) Und so erinnere ich mich an all die Tischgebete, die unser Jüngster an sich riss, weil er jede Gelegenheit genutzt haben wollte, um Gott zu bitten, seinen Bruder zu heilen. Dass Jona sterben würde, das wusste sein Kopf nur zu gut. Doch der Kopf allein reicht oft nicht…

Es ist nicht ganz ein Jahr her, dass mein Kopf ganz genau wusste, da stimmt etwas nicht, als dieses Auto vor uns schon zum zweiten Mal auf den Bordstein dieser fast tunnelartigen Straße fuhr und anschließend auf die Gegenspur. Während ich quasi machtlos hinter diesem Auto herfuhr, hatten meine Gefühle versucht, meinen Kopf zum Schweigen zu bringen „Vielleicht sucht derjenige nur was am Boden…“ – „Das wird schon gut gehen…“. Und nur um zu verhindern, dass das Kind neben mir Zeuge eines Zusammenstoßes werden würde, bekam mein Kopf die Oberhand, und ich bog in die nächste Seitenstraße ein. Von dort rief ich dann kurz darauf die Polizei, trotzdem in mir immer noch dieses Gefühl „Wird schon alles nur halb so doll sein…“ den Kopf übertönte.

Er hat einen geliebten Menschen verloren. Die Menschen wollen hören, dass er „langsam wieder klarkommt“. Man wünscht ihm Normalität zurück – was auch immer Normalität für einen Menschen bedeuten mag, dessen Herz zerbrochen ist. Denn das Normal, das mal war, das gibt es nicht mehr. Man fragt dezent, ob er denn schon wieder zur Arbeit zurückgekehrt sei. Selbstverständlich… klar, er braucht noch Zeit, ist noch nicht so weit – so versucht man zu verstehen. Jemand, der nicht selbst mal an diesem Punkt war, wird nicht wirklich verstehen. Denn wenn es darauf ankommt, sind Kopf und Herz viel zu selten synchron unterwegs.

Und so finde ich, dass wir manchmal sehr ungnädig sind mit uns selbst – und gleichzeitig dann doch sehr wenig hilfreich. Wir gehen sehr hart mit unserem Kopf ins Gericht (und auch mit den Köpfen anderer), mit unseren Gedanken. Und wir vergessen dabei unser Herz. Wir disziplinieren, wir hinterfragen, wir kritisieren – unseren Kopf. Ob und wie unser Herz bei alledem schon mit dabei war, das ist uns manchmal völlig egal.

Wir erwarten, dass automatisch das Herz nachzieht, nur weil der Verstand etwas begriffen hat. Doch dass eine Erkenntnis, bis sie ganz ins Herz gesackt ist, meistens mehr als nur einen Anlauf braucht, und dass nicht nur Türen sondern ganze Schleusen offen sein müssen, damit ankommt, was der Kopf sich schon längst als logisch erschlossen hat, das wollen wir oft nicht glauben.

Oft macht der Kopf es dann auch unnötig schwer. Stellt Ultimaten. Setzt gesellschaftliche Standards. Maßstäbe, die weit mehr zum Ziel haben, als „einfach nur durchkommen“. Und so sucht der Kopf Ausreden, rechtfertigt, erstellt komplizierte Konzepte, die mit der Realität des Herzens meist nicht mehr viel zu tun haben.

Lösungen? Ich sehe mich nicht als die Person, die qualifiziert ist, Lösungen zu liefern oder Antworten zu geben. Seh mich eher als der Mensch, der sagen möchte, wie es ist, und dass da Lösungen zu finden sind und gefunden werden können – vorausgesetzt, man will sie, sucht sie, und man ist dafür bereit.

Oft sind wir leider doch sehr ergebnisorientiert. Denken, wir sind lösungsorientiert. Denken, das ist ein und dasselbe. Haben einen Idealfall, einen Idealzustand im Blick. Haben diesen Tunnelblick, der sieht, was perfekt und erstrebenswert ist – und übersehen dabei, dass auf dem Weg der Mensch liegt. Der Mensch mit all seiner Menschlichkeit, seinen Bedürfnissen, seinen Fehlern und seinen Unzulänglichkeiten.

Der Mensch, der ein Herz hat. Ein Herz, das wir oft so sehr vernachlässigen – und das so oft nach Pflege schreit, nach Geduld, nach Gnade. Ein Herz, das in unserer dem Intellekt verschriebenen Welt oft untergeht. In einer Welt, die vergessen hat: Was der Kopf weiß, muss das Herz noch lange nicht verstanden haben.  

Foto by www.nilustrate.com

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.