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Freiheit

Last updated on 6. Juni 2021

Warum dieser Stein, den ich heute beim Spazierengehen entdeckt habe, in mir Aggressionen auslöst? Das würde ich gerne selbst verstehen… So ganz kann ich mir das noch nicht beantworten. Ich versuche meine Gefühle aufzudröseln – gerade, im Moment.

Liegt es vielleicht daran, dass derartige „mutige und öffentliche“ Statements zu viele geworden sind – vor allem im Wald. Auf dem einen Durchfahrt-verboten-Schild klebt ein Sticker, der mich in eine gewisse gesellschaftliche Richtung bekehren möchte (da ich ja selbst sehr einfältig und desinformiert bin). Und auf den nächsten gefällten Baum ist ein Spruch gekritzelt, der verlangt, man solle doch aufhören Bäume zu fällen (denn es ist natürlich besser, der nächste Sturm lässt diesen abgestorbenen Baum auf den Kopf eines Spaziergängers niedergehen).

Vielleicht aber liegt es auch daran, dass diese Stelle, neben der eine Bank steht, immer mal wieder als heimliche Party-Ecke dient – und die Flaschen werden dann schön fein ins Gebüsch entsorgt. „Freiheit“ – Was ist Freiheit? Ist das die Freiheit, die gemeint ist? Mit Bierdosen bewaffnet durch den Wald zu streichen? So wie die Horde Mädels, die mir an diesem Vatertag entgegenkam. Der Frische des Löwenzahns nach zu urteilen, hätten auch sie diejenigen sein können, die den Stein abgelegt haben. (Braucht man denn wirklich Bier um als junge Frauen am Vatertag den Wald zu überstehen?)

Vielleicht liegt die Sache aber noch tiefer. Ist es so, dass ich gerade das Gefühl habe, dass Menschen mir im Namen der Freiheit permanent sagen, was ich denken und glauben soll. Was gut ist und was schlecht. Sie fordern Freiheit und Unabhängigkeit, verhalten sich aber übergriffig und hysterisch fremdgesteuert. Mit Selbstbestimmtheit und innerer Freiheit hat das in meinen Augen nichts mehr zu tun.

Vielleicht liegt es daran, dass ich ja eigentlich in den Wald gehe – ja, weil mein Hund mich drängt – aber auch, weil ich da sehen kann, was ich sehen möchte. Ich kann den Wald sehen – oder nur den Baum. Ich kann den Himmel sehen – oder nur die Wolke. Ich kann die Wiese sehen – oder nur den Grashalm. Hier gibt mir keiner vor, wie ich die Welt sehen soll – es ist ja kein Museum, sondern der Wald. Und ich kann einfach denken – oder nicht denken. Und mich freuen – oder auch traurig sein. Im Wald möchte ich genau diese Freiheit (er)leben – und nicht lesen.

Wenn ich Dinge lesen will, dann geh ich in die Stadt und schau mir Laternenpfähle an. Und wenn dort, wie ich neulich gelesen hab, einer schreibt „Anja du Segel“ dann weiß ich, da war einer wirklich gemein – aber das Schicksal wollte es, dass die Person von Rechtschreibung keine Ahnung hat und somit ungewollt durch ein falsch geschriebenes Schimpfwort dieser lieben Anja mehr Freiheit geschenkt hat als er je wollte (denn ein Segel im Wind, wie schön muss das sein!) – Irgendwie mehr Freiheit als ein Statement-Stein im Wald… 

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.