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Hineinblicken lassen – nach außen tragen

Last updated on 21. Januar 2021

Ich sitze hier draußen auf meiner Terrasse (oder auch vor meinem Wohnzimmer – je nachdem, wie man es betrachtet) und warte auf meine Verabredung. Die Kerze brennt, der Glühwein steht bereit, der Heizstrahler bewirkt einen minimalen Temperaturunterschied – aber ich bin dick eingepackt. Der Rest der Familie ist drin. Ich hab mich für eine Weile ausgeklinkt.

Und während ich so dasitze, schaue ich durch die Fenster in mein eigenes Haus. Die Gardinen sind zwar zugezogen. Doch unsere Mia, die immer noch nicht so recht fassen kann, dass ich sie einfach nicht mit nach draußen lasse (sie könnte ja noch was verpassen…), hat mit ihrer Schnauze, die Gardine verschoben, und gibt mir so noch ein bisschen mehr Einblick ins Treiben im Haus, als ich es vorher hatte. Aber was gerade wirklich so läuft… ich kann es mir nur denken (und will es in diesem Moment auch nicht so wirklich wissen ;)).

Das Magazin Brainstorm der Deutschen Hirntumorhilfe e.V. wollte ich eigentlich schon abbestellen, habe ich mit diesem Thema ja eigentlich nichts mehr (und hoffentlich auch nie mehr) zu tun. Trotzdem – es lässt mich nicht los. Und so bin ich froh zu sehen, wie in der aktuellen Ausgabe ein erwachsener Mann „die Gardine ein ganzes Stück zur Seite schiebt“ und dem Leser einen Einblick in sein Leben gibt – seit 17 Jahren leidet er an einem Glioblastom.

Und er schiebt nicht nur die Gardine zur Seite, sondern noch viel mehr – er trägt sein Leben ein Stück nach draußen. Er spricht über medizinische Details, aber auch über seinen Alltag, über seine Gefühle, Prioritäten, Pläne… Ich sauge seine Geschichte förmlich auf und habe Gänsehaut, weil es mich so sehr bewegt, dass er immer noch leben darf. Aber ich trauere auch ein bisschen, weil ich weiß, genau dieselben Ängste und körperlichen Leiden waren ständiger Begleiter unseres damals nur sechsjährigen Jungen – und das Verständnis von außen nicht gerade grandios.

So gerne höre ich die Podcasts aus der Wegbegleiter-Reihe und bin immer wieder erstaunt, wie durchdacht Anna Lammer die Geschichten oder die Tätigkeiten und Aufgaben einzelner Menschen nahebringt und neue Impulse gibt. Im aktuellsten Podcast spricht sie mit einer Physiotherapeutin, die fast ausschließlich mit lebensverkürzt erkrankten Kindern und Jugendlichen arbeitet. Monja Sales Prado gibt einen Einblick in ihre Arbeit und Methoden. Und sie sagt, es ist ihr wichtig „… Informationen nach außen zu tragen“.

Betroffenen selbst und ihren Angehörigen macht es Mut. Voneinander lernen, einander stärken, Informationen und Erkenntnisse austauschen, sich nicht als die Einzigen fühlen – das baut auf.

Themen, wie lebensverkürzende Erkrankungen und damit verbundene Einschränkungen, Palliativversorgung, Sterben, Tod, Trauer und dergleichen aus diesem Mikrokosmos herauszutragen und „in den Salon“ zu bringen („salonfähig machen“ ist nicht ganz das passende Wort) und unter die Menschen – etwas, das unbedingt stattfinden muss.

Denn – schwer und lebensverkürzt erkrankte Menschen sind Teil unserer Gesellschaft. Sie sind Teil unserer Gesellschaft, genau wie Menschen, auf die das System setzt und baut. Doch gerade diese Menschen, deren Leben und Lebensverlauf nicht dem Standard entsprechen, sind ein unterschätzt wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft. Wir brauchen sie – diese Menschen! Wir brauchen ihren Blick aufs Leben – und auf den Tod. Wir brauchen ihre Art Prioritäten zu setzen und Pläne zu machen. Wir brauchen ihre Ermahnung an uns, was für ein Geschenk es ist, ohne körperliche Einschränkungen leben zu können – und wie das doch einfach nicht alles ist, was zählt. Wir brauchen diese Menschen! – Und nicht einfach nur irgendwo am Rand…

Genau darum ist es wichtig, Einblick zu geben, einen Blick hinter die Gardinen zu gewähren, Informationen und Erlebtes nach außen zu tragen. Es ist wichtig zu sensibilisieren und in den Mund zu nehmen, worüber manche noch nicht einmal nachdenken wollen. Hineinblicken lassen – und nach außen tragen.

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.