Last updated on 1. Juli 2021
Es war nicht zu überhören, dass es draußen immer wilder wurde. Verirrte Regentropfen benetzten uns durch das Oberlicht des Kirchenfensters wie mit einer Sprühdose. Als wir unser letztes Lied anstimmten, für das wir zu dieser Beerdigung gekommen waren, versuchte ich fokussiert zu bleiben und mir nicht auszumalen, wie wohl draußen gerade schon das zweite Mal in dieser Woche quasi die Welt untergeht.
„Völlig unvernünftig wäre es, mich jetzt auf den Weg zu machen“, ging es mir dann durch den Kopf, während der Pfarrer den Plan umschmiss, und die Trauergemeinde statt auf dem Friedhof nun hier in der Kirche von der Verstorbenen Abschied nahm. „Asche zu Asche, Staub zu Staub…“ hörte ich den Pfarrer.
„Hoffentlich wartet er jetzt nicht vor der Schule auf mich…“ schossen mir die Gedanken durch meinen besorgten Kopf. Denn in etwas mehr als einer halben Stunde hatten mein Sohn und ich uns verabredet. Der Nachmittag war durchgeplant. Von der Beerdigung zur Schule, Kind abholen, kurz heim, abladen, ein kleiner Snack, Kind zum Klettern. Darf das dann sein, dass ein Sommersturm einem den kompletten Plan durcheinanderwirbelt?
So schnell, wie sie gekommen waren, hatten sich die wilden Wolken mit Wind, Gewitter und Regen wieder verzogen. Ich sprang ins Auto. Schnell zur Schule. Auf dem Weg bot sich mir ein Bild der Verwüstung – überlaufende Gullys, Blätter, Zweige, riesige Äste.
Auch die Autolawine rollte wieder durch die Stadt. Nur ein wenig langsamer. Gekonnt umfuhr man – mich eingeschlossen – die auf der Straße liegenden Zweige und Äste. „Sollte ich kurz mal anhalten und den Ast zur Seite legen? – Ach, du hältst nur den ganzen Verkehr auf… – Aber irgendwer sollte das ja wegmachen. Sonst, wenn das heute bei Dunkelheit noch liegt… Na, irgendwer wird es schon wegräumen. Wer ist irgendwer? Ja, irgendwer. Irgendwer, der sich verantwortlich fühlt. Irgendwer, der verantwortlich ist…“ mit diesen Gedanken im Kopf fuhr ich weiter zur Schule, lenkte gekonnt um jeden Ast herum. „Nachher kannst du irgendwo was wegräumen. Jetzt erstmal abholen, heim, Snack, klettern…“
So wie mir ging es scheinbar allen. Der Sturm war vorüber. Man selbst war heil, das Auto auch. Die Gefahr für Leib und Leben war vorüber, und sofort hieß es wieder pünktlich sein, Termine einhalten, noch schnell Bier kaufen, damit man rechtzeitig zum Fußballspiel vor einem Fernseher sitzt. Zeit zum Aufräumen? – Ist jetzt noch nicht dran!
„Ist das nicht immer dasselbe?“ hab ich mich heute Morgen dann gefragt, als ich mit dem Hund durch den Wald lief, den es im Vergleich zur Stadt ziemlich mild getroffen hat. „Dass wir getrieben von unserem Leben lieber schnell umfahren, was uns hätte erschlagen können. Statt dass wir kurz unseren Kalender opfern und uns mit dem beschäftigen und lösen, was uns im Weg liegt und somit immer noch eine Gefahr darstellt. Egal was auch war – ist das nicht immer dasselbe mit mir, mit uns?“
Das Leben hat uns meistens fest im Griff. Und das ist auch in Ordnung so. Denn, es ist eben, was wir hier sind und tun und auch wozu wir da sind – das Leben. Das ist alles in Ordnung, solange wir nicht vergessen, dass das Leben mehr ist, als einfach nur „durchzukommen“. Und es ist in Ordnung so, solange wir immer wieder anhalten und nachdenken über den ein oder anderen „Ast“, der uns den Weg versperrt. Ihn aus dem Weg räumen, zersägen, verbrennen – und ihn nicht einfach nur gekonnt umschiffen, umgehen, umfahren, ihm ausweichen auf dem Weg zum nächsten Termin oder zur nächsten Ablenkung.