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Schuhgeschichten

Last updated on 23. April 2021

Jeder Mensch, der in unser Leben tritt, hinterlässt irgendetwas… Menschen, die uns aus den unterschiedlichsten Gründen besonders nahe stehen, hinterlassen mehr als nur „etwas“. Sie hinterlassen eine echte Spur. Manchmal eine Spur des Glücks. Manchmal eine Spur, die unserem Weg eine Richtung gibt. Manchmal auch leider nur eine Spur der Verwüstung. Und dann eine Spur der Erleichterung, dann wenn sie nicht mehr da sind (darüber spricht man nur zu selten).

Durch die Menschen, die in unser Leben treten, lernen wir. Wir lernen von ihnen. Und wir lernen durch sie. Durch Menschen in unserem Leben, mit denen wir eng verbunden sind, lernen wir die Welt anders kennen. Anders, als nur wir selbst sie sehen. Und was wir kennenlernen dürfen, ist nicht nur der Blick dieser Menschen auf die Welt. Sondern auch den Blick der Welt auf diese Menschen.

Ich für meinen Teil bin am meisten geprägt von meiner Familie (wie das wohl bei den meisten der Fall ist) – den Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin und mit denen ich jetzt lebe. Ihre Leben haben meins geprägt – und tun das immer noch. Auch der Versuch sich von Belastendem und Schlechtem zu distanzieren, bewahrt nicht davor, dass all das Teil des Erbes ist, das man in sich trägt und mit sich bringt.

Dass Jona in mein Leben kam, und wie sein Leben verlief, hat mein Leben so nachhaltig geprägt, wie es nachhaltiger fast nicht geht. Mein Blick hat sich gedreht, Prioritäten haben sich verschoben. Fassaden sind gebröckelt. Und ich hab nicht nur gelernt ein bisschen zu verstehen, wie sich ein Kind wie Jona fühlt, wie es ihm geht, was Kinder wie Jona beschäftigt.

Ich hab auch gelernt zu verstehen, wie unsere Gesellschaft Kinder wie Jona wahrnimmt, welchen Platz Kinder wie Jona haben, was man von ihnen erwartet, und welchen Raum man all dem gibt, was sie mitbringen. Es ist schon wieder mehr als zwei Jahre her, da habe ich unseren Keller aufgeräumt und Jonas Schuhe gefunden… sämtliche Schuhe seiner letzten Jahre und Wege hier. Jedes Paar hat mir Geschichten erzählt, mich an Orte erinnert, an Menschen.

Jedes Paar hat mich an Jona erinnert und an seine Begegnungen „da draußen“. Zu Hause hat er nur Socken getragen. Die Schuhe trug er draußen. Da, wo er auf andere Menschen stieß als uns, seine Familie… auf Menschen, die Spuren hinterlassen haben – in seinem Leben und in meinem.  

So schrieb ich damals „Unser Zuhause ist alles andere als perfekt organisiert. Ich bin so eine Person, die immer wieder neu den ultimativen Platz für dieses und jenes sucht (und diesen nie findet). Drum bin ich immer wieder mal am Auf- und Rum- und Wegräumen. Aber das Schönste daran, das ist das Finden. Viele Sachen, für die wir in absehbarer Zeit keine Verwendung mehr haben, verlassen oft bald wieder das Haus. Aber Jonas Sachen, an denen hänge ich sehr. Ich nehme sie manchmal sogar lieber zur Hand als Fotos. Vielleicht weil er sie geschaffen, mit ihnen gespielt, gemalt, sie getragen hat. Und sie in die Hand zu nehmen, bringt mich ihm irgendwie für einen Moment ein Stückchen näher. Heute hab ich die Schuhe umsortiert… Und da Jona seit seiner ersten Erkrankung 2011 kaum gewachsen war, stehen fast noch alle seine Schuhe der vergangenen 8 Jahre im Regal. Und da nehm ich sie in die Hand – jedes einzelne Paar. Und ich erinnere mich an Geschichten. Warum er diesen oder jenen Schuh wollte. Was er erlebt hat in seinen Schuhen. Wohin er mit ihnen gelaufen ist.“

Die möchte ich die nächste Zeit nochmal aufrollen, diese Schuhgeschichten – für mich und für euch. Und nochmal neu draus lernen. Ermutigen. Wachrütteln. Dankbar sein. Aufmerksam machen.

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.