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Irgendwas ist falsch…

Last updated on 21. Januar 2021

Meine Nachbarin und ich stehen zusammen. Ihr Mann ist vor gerade mal zwei Wochen gestorben. Erahnt und doch nicht erwartet. Zu früh für alle um ihn und scheinbar nicht zu früh für ihn selbst – lässt doch Krankheit auch ohne Jahre alt werden. Entgegen den Prognosen und Hoffnungen und doch, weil es einfach so war.

Wir sprechen. Über dieses immer noch nicht realisieren können. Über diese Gefühle, die einen denken lassen, vielleicht kommt er ja gleich doch wieder nach Hause – er war ja auch sonst immer mal wieder länger weg. Darüber, wie doch alles viel zu schnell ging. Wie sich doch irgendwie einfach alles falsch anfühlt.

Dass Jona nicht mehr wieder kommt, das weiß ich jetzt – meistens. An irgendeinem Punkt haben wir sein Zimmer wieder belebt. Vielleicht weil das ist, wie wir sind, und er das selbst noch mit seinen Brüdern wenige Tage vor seinem Tod diskutiert hat. Oder vielleicht auch, weil wir schon immer ein Kinderzimmer zu wenig hatten, und weil das einfach keinen Sinn gemacht hätte – ein Zimmer, in dem sich der Staub auf die Möbel legt, und ein anderes, in dem sich während der Schularbeiten zwei Dickköpfe die Schädel einschlagen.

Und doch gibt es immer wieder diese Momente, in denen ich denke „Irgendwas ist falsch…“. Diese Momente, wenn ich statt vier Schoko-Nikoläusen nur drei kaufe. Wenn ich statt vier Stapel Adventskalendersäckchen nur drei befülle und aufhänge.

Ich merke, dass irgendwas falsch ist, wenn wir Bilder von Jona anschauen, und alle gleich gültig sind – weil Vorher und Nachher sind nicht mehr einfach nur Damals und Jetzt. Denn, da ist kein Jetzt. Vorher und Nachher sind: Als Jona noch da war und Seitdem Jona nicht mehr da ist. Und es ist nicht wichtig, ob Jona auf einem Bild, das ich zufällig noch finde und mir an den Kühlschrank hefte, ein kleines Kind war oder ein Teenager, ob er dürr war oder dick… Das ist egal. Denn – das war Jona. Und Jona ist alles, was er war – und das wird er immer sein.

Denn, das ist es, was irgendwie falsch ist… Dass da keine Zukunft mehr ist, wo Zukunft noch angebracht gewesen wäre.

Warum schreibe ich so etwas an einem ersten Advent? Weil das meine Gedanken sind… in einem Kopf der gerade oft so voll und doch so leer ist. Und weil ich weiß, dass es manchmal einfach gut tut, wenn ein weiterer Mensch in Worte fasst, was man selbst gerade fühlt. Weil ich weiß, wie gut es mir tut, zu lesen, was jemand meiner Liebsten vor nicht allzu langer Zeit in den Briefkasten auf Jonas Grab gelegt hat.

Denn das tut manchmal einfach gut – zu sagen und zu hören, dass etwas einfach irgendwie falsch ist…

Gedicht im Foto: Memento von Mascha Kaléko (1907-1975) aus: Verse für Zeitgenossen (1974)

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Julia ist Jahrgang 1981. Sie ist eigentlich Übersetzerin – singt aber am liebsten… und besser als sie übersetzt. 2011 wurde bei ihrem ältesten Sohn Jona ein Hirntumor, genauer bezeichnet als Medulloblastom, festgestellt. Seit seinem ersten Rückfall schreibt sie ihre Gedanken in Form eines Blogs nieder. Sie singt auf Hochzeiten und überall sonst, wo man Lieder braucht. Doch am liebsten nimmt sie Menschen durch ihre eigenen Lieder mit – mit in ihre eigene Welt. Sie bäckt so ungern Kuchen, dass, wenn sie’s doch einfach mal tut, der Rest der Familie fragt, wer denn Geburtstag hat. Sie wünscht sich, sie könnte besser schwimmen, ist aber doch nicht ehrgeizig genug, weil sie sich eigentlich mit Boden unter den Füßen am wohlsten fühlt. Und es geht ihr wie so vielen Müttern auf dieser Welt: Sie ist einfach gern allein – und ist sie’s dann tatsächlich, fühlt sie sich doch, als würde ihr ein Bein fehlen. Mit ihrem Mann, Jonas drei Brüdern und dessen Hund Mia lebt sie in Ravensburg.